StartseiteÜber michBetriebErzählungenGästebuchKontaktVideoportalFotoalbum

Erzählungen:

Der "Schweinekrieg" von Siek

Die neue Umgehungsstraße von Siek

Von Siek nach Kühsen

Meine Zeit in der Sieker Feuerwehr

Siek, meine Heimat

Meine Zeit im Sieker Gesangverein

Fernschule

Die Raute im Herzen

"Siek ist kein Bauerndorf mehr!"

Nachgetreten

Windkraft in Klinkrade

Wenn man trotzdem lacht

Ich denke oft an Jördis

Allgemein:

Startseite

Ich denke oft an Jördis

Früher hieß einer meiner Lieblingsfilme “Ich denke oft an Piroschka” aus dem Jahre 1955 mit Liselotte Pulver in der Hauptrolle. Ich hätte nie gedacht dass ich irgendwann einmal auch so eine Story schreiben würde. Und eigentlich müsste ich auch damit beginnen “Es fing alles ganz anders an”.
Im Juli 1979 bin ich mit der landwirtschaftlichen Lehre angefangen, das erste Jahr im elterlichen Betrieb, das zweite Jahr, vom 16. Juli 1980 bis 15. Juli 1981, im Betrieb von Hans-Werner Walkling in Wolkenwehe, einem Ortsteil von Bad Oldesloe. Der Start war nicht leicht für mich, zu Hause ging alles seinen gemütlichen Trott, Walkling dagegen hatte ein Lohnunternehmen, und da liefen die Uhren etwas anders. Irgendetwas war immer, entweder hatte ich mich verfahren und kam viel später als erwartet, oder mir ist etwas anderes passiert, einmal hat mich die Sonne so geblendet dass ich mit dem Trecker und Wagen durch den Graben gefahren bin. Der Chef war einmal so genervt von mir, er drohte mich nach Hause zu schicken wenn es nicht besser werden würde, aber schließlich haben wir doch das ganze Jahr miteinander durchgehalten. Vielleicht hat uns eine Gemeinsamkeit zusammengeschweißt: wir haben am selben Tag Geburtstag gehabt, am 30. November.
Ich war nicht der einzige Lehrling, außer mir waren noch Detlev Böhmker und Heiko Steen da. Detlev kannte ich schon aus dem ersten Berufsschuljahr her, er ging mit mir in dieselbe Klasse. Heiko war der Jüngste von uns, er kam aus dem Nachbarort Rümpel und ersetzte einen Lehrling der kurz vorher abgesprungen war. Auf dem nächsten Bild sind zu sehen: (von links nach rechts) Christian Evers (“Evi”), ich, Carsten Walkling (Sohn von Walkling und jetziger Betriebsinhaber), Detlev und Heiko. Das Bild ist irgendwann während meiner Lehrzeit bei Walkling aufgenommen worden.

Neben dem Lohnunternehmen hatte der Betrieb noch Milchkühe und Mastbullen. Frau Walkling hatte für die Hauswirtschaft noch Sabine aus Owschlag in Lehre genommen, außerdem vermietete sie Zimmer für Urlaubsgäste, in den Wintermonaten waren dort fünf junge Frauen untergebracht die die landwirtschaftliche Hauswirtschaftsschule besucht haben. Zur Familie von Walkling gehörten auch noch der ältere Sohn Jens und die jüngere Tochter Tanja, alle im Teenageralter. Man kann sich vorstellen dass in dieser Zeit immer etwas los war.

Was hat das jetzt mit Jördis zu tun? Nichts. Ich weiß nicht genau wann sie zu uns in die Berufsschulklasse gekommen ist, es muss aber im Herbst 1980 gewesen sein. Sie war Austauschschülerin aus Norwegen und besuchte uns für ein halbes Jahr. Sie war auf einem anderen Betrieb im Oldesloer Umland untergebracht, ich denke sie ist dort zur Lehre gewesen. Sie war zwei bis drei Jahre älter als ich und verlobt, also vergeben. Damals war ich noch keine 18 Jahre alt, war einer der jüngsten Schüler in der Klasse, hatte keinen Autoführerschein und somit kein Auto, war immer ruhig und etwas schüchtern (trotz meiner Spitznamen „Wilde Hilde“ und ACDC“), also hatten wir uns nicht sofort kennengelernt, andere Mitschüler hatten sie für sich in Beschlag genommen.

In der Anfangszeit musste ich mit dem Fahrrad zur Berufsschule fahren, Ende Oktober war Detlev dann 18 Jahre alt, hatte einen Führerschein und auch schnell ein Auto, so konnte er mich mit zur Schule nehmen, wir gingen immer noch in dieselbe Klasse. Freitags war unser Berufsschultag (außer den Ferien), und mit der Zeit lernte ich Jördis immer besser kennen. Es war schön mit ihr zu reden, sie war eine kluge Frau, mir gefiel ihre Art sehr. Für mich war sie ein guter „Kumpel“ (wenn ich eine Frau so überhaupt bezeichnen darf). Wie soll ich es beschreiben, sie gehörte einfach „dazu“. Bis Anfang März 1981 kann ich mich nicht an etwas Besonderes erinnern.

In den Wintermonaten bin ich in Bad Oldesloe zur Fahrschule gegangen, und im März 1981 sollte dann meine Fahrprüfung sein. Fahrschule und ein eigenes Auto, das waren meine Hauptgedanken zu der Zeit. Anfang März waren Herr und Frau Walkling im Urlaub, in Österreich, und haben am 5. März schönen Obstler mitgebracht. Abends hatte es nicht lange gedauert, da war die Flasche alle. Die Wirkung vom Obstler kannte ich noch nicht. In der Nacht musste ich mich übergeben, am nächsten Morgen, einem Freitag, musste ich wieder zur Berufsschule. Ich war an der frischen Luft, da ging es mir gut. Frau Walkling hatte mir für Jördis ein Buch mitgegeben was ich ihr auch überreichte. Doch während des Unterrichts wurde die Luft irgendwie immer schlechter, und mir wurde immer übler. Der 6. März 1981 ist nun über 40 Jahre her, aber weder Lehrer Fiedler noch die anderen Beteiligten werden den Tag je vergessen. Ich wurde immer unruhiger, ich bat meinen Sitznachbarn darum mich rauszubringen, aber er meinte das ginge nicht während des Unterrichts. Ich meldete mich, aber es ging nicht mehr, ich musste mich übergeben. Detlev musste mich schließlich wieder zu Walkling fahren, aber die erwarteten eine Schulklasse zu Besuch. Ich habe mich umgezogen und bin einen Strohdiemen hochgeklettert, wenn mich jemand sah war ich gerade beim Strohballen umpacken. So habe ich dann die nächsten Stunden überstanden. Eigentlich hätte ich nachmittags noch eine Fahrstunde gehabt, aber die wurde wegen angeblicher Doppelbuchung abgesagt. Es war kein rühmlicher Tag für mich, schließlich mussten meine Klassenkameraden meine Hinterlassenschaften beseitigen.

Vom 9. bis 11. März 1981 war eine Reise nach Berlin angesagt, Begleitung war Lehrer Schmidt. Ich habe im Bus am Fenster Platz genommen, und wer fragte mich ob sie neben mir Platz nehmen könne? Jördis! So eine bezaubernde Frau wie Jördis fragt einen Trottel wie mich – da hatte ich nicht mit gerechnet. Selbstverständlich erlaubte ich es ihr, und selbstverständlich übernahm sie den Fensterplatz als sie es wollte. Es war so als ob eine Fee vorbeikam und mir eine schöne Zeit bereitete. Was auf der Reise alles passierte weiß ich nicht, ich durfte die Reise mit Jördis verbringen, alles andere war egal.

Am 25. März 1981 habe ich schließlich die Führerscheinprüfung bestanden. Am 27. März 1981 war der letzte Schultag mit Jördis in der Berufsschule. Sie hatte ein Büchlein herumgehen lassen wo jeder seine Adresse eingetragen hat, sie wollte nach ihrer Rückkehr nach Norwegen jedem einen Brief schreiben. Außerdem wurde ein Klassenfoto geknipst, sie als unser strahlender Stern in der Mitte:

Nach Schulschluss haben wir uns draußen getroffen und ein weiteres Foto geschossen, mit Pauker Fiedler anstatt Jördis auf dem Foto. Ich dachte das war´s und wollte schon gehen, da sollte noch ein drittes Foto geknipst werden, Jördis wollte mit aufs Bild. Ich stand wie auf dem ersten Bild rechts außen, und ich fragte mich wo Jördis sich hinstellen wolle. Ich sehe sie noch immer den Gang entlang gehen, und dann stand sie neben mir. Dabei entstand folgendes Foto:

Der Sonnenschein unserer Klasse stellt sich neben dem Trottel hin - wie kam ich zu der Ehre? Ich weiß es nicht. Einige Mitschüler auf dem Bild kenne ich noch, doch die meisten sagen mir nichts. Eine zweite junge Frau ist auf dem Bild zu sehen – ehrlich gesagt habe ich das wohl nicht richtig mitbekommen, sie sagt mir auch nichts. Ich fragte mich nur wozu die ganzen Bilder, wir sehen uns nächste Woche doch wieder.

In der darauffolgenden Woche hatten wir einen Deula-Lehrgang in Rendsburg. Alles lief prima bis … bis auf einmal Lehrer Fiedler erschien. Es ging um ein Abschiedsfest für Jördis, Termin nächsten Freitagabend. Es sollten alle Mitschüler erscheinen. Der Termin war zeitgleich mit der Konfirmationsfeier meiner Schwester Elke. So ein Termin wird monatelang vorher geplant, und die Familie war und ist das Wichtigste in meinem Leben. Meine Eltern haben die ganze Zeit die Arbeit ohne mich erledigen müssen, sie haben viele Entbehrungen auf sich nehmen müssen. Und meine Schwestern wollte ich auch nicht im Stich lassen, sie gehören schließlich zur Familie. Also sagte ich kurz und trocken: „Ich kann nicht kommen“. Es war so als ob ich einen Elefanten in den Porzellanladen geschickt hätte der alles bis aufs Kleinste zertrümmerte. Der Sonnenschein in Jördis Gesicht war verzogen. Was sollte ich machen? Ich wusste es damals nicht. Man muss sich das einmal vorstellen, auf dem Bild stellt sie sich extra neben mir hin, deutet mir an dass ich ihr etwas bedeute, und ihren letzten Wunsch auf ihrer Feier dabei zu sein schlage ich einfach aus. Im Film der „Piroschka“ gab es noch ein Happyend, ein letztes Wiedersehen, bei mir war nach dem Deula-Lehrgang Schluss, die Abschiedsfeier habe ich nicht besucht, Jördis hat mir nie geschrieben, und bis heute, 40 Jahre lang, habe ich geschwiegen.

Ich war damals einfach ein großer Trottel. Ein Zwischenfall bei Walkling ist mir immer in Erinnerung geblieben. Der Chef hatte mich beauftragt Milch aus dem Tank zu holen, seine Frau wollte eine Spezialität herstellen. Also ging ich in die Küche und fragte Sabine wieviel Milch ich holen solle. Sie deutete auf die Eimer in der Ecke und sagte „Du kannst alle drei nehmen“. Was sollte das bedeuten? Ihrer Meinung nach sollte ich mir einen Eimer aussuchen. Ich dagegen habe es so aufgefasst dass ich alle drei Eimer füllen sollte, habe also alle Eimer mitgenommen und vollgefüllt, und bin mit meinen Helfern mit drei vollgefüllten Eimern in die Küche zurückgekehrt. Der Chef ist vor Wut fast an die Decke gesprungen, ich sollte etwa 5 Liter Milch holen und kam mit über 30 Litern wieder. Ähnliche Vorfälle hat es häufig gegeben. „Zu dumm zum Bier holen, fällt hin und verbiegt das 5-Mark-Stück“ musste ich mir des Öfteren anhören. Sabine war natürlich angefressen. Sie hatte Urlaub, und als sie aus dem Urlaub wiederkommen wollte (der Abend der Konfirmationsfeier meiner Schwester) traf ich sie auf dem Bahnhof in Bad Oldesloe. Sie wollte nur schnell an mir vorbeigehen, aber ich habe ihr noch zugerufen dass Frau Walkling sie mit dem Auto abholen wolle, sie solle nur 5 Minuten warten, dann war sie verschwunden. Offensichtlich hatte sie meine Worte doch vernommen, schließlich besserte sich unser Verhältnis wieder. Nach der Zeit bei Walkling haben Detlev und ich Sabine und ihre Mutter im Mai 1983 in Owschlag besucht, und im Jahre 2009 habe ich eine E-Mail von ihr erhalten dass sie nun Großmutter sei. Der Abend wo die Beziehung zu Jördis zu Bruch ging rettete die Beziehung zu Sabine.

Nach gut 40 Jahren (im Juli 2021) schreibe ich diese Zeilen – warum? Wegen meiner Schwester Elke habe ich die Abschlussfeier von Jördis sausen lassen, und die Beziehung zu meiner Schwester ist in der letzten Zeit in die Brüche gegangen. Ich bin nun 58 Jahre alt, meine Mutter ist vor 5 Jahren verstorben, mein Vater ist nun 88 Jahre alt und an Demenz erkrankt. Neben dem Betrieb muss ich ihn mit versorgen. Mein Vater ist auch der Vater meiner Schwester, sie hat es einfach nicht nötig sich auch nur etwas um ihn zu kümmern. Vor der Demenz hat sie freitags, wenn sie Homeoffice hat, meinen Vater noch hierhin und dorthin begleitet, mit einer dementen Person will sie sich nicht öffentlich blicken lassen. Meine jüngere Schwester Uta hilft mir noch etwas, sonst muss ich alles alleine machen. Ich habe alles für die Familie und somit auch für meine Schwestern getan, und nun werde ich von Elke in Stich gelassen.

Damals, es war einfach eine schöne Zeit mit Jördis. Man merkt leider erst was man von einem Menschen hat wenn der Mensch nicht mehr da ist. Damals, ohne Auto, sah mein Weg von Walkling nach Siek wie folgt aus: mit dem Fahrrad 4 km radeln bis zum Oldesloer Bahnhof (Dauer ca. 15 Minuten), mit der Bahn nach Ahrensburg fahren, Fahrrad mitnehmen (Dauer ca. 30 Minuten), dann mit dem Fahrrad 8 km bis nach Siek radeln (Dauer ca. 30 Minuten). Die Wartezeit auf den Zug ist immer unterschiedlich gewesen so dass ich für den Heimweg ca. 80 bis 90 Minuten benötigt habe. Mit dem Auto war alles wesentlich einfacher: von Walkling aus ca. 1 km bis zur B 404 fahren, dann auf die A1, in Siek abfahren, dann ca. 1 km bis nach Hause, Fahrtzeit ca. 15 bis 20 Minuten. Ich hatte zur Abschiedsfeier von Jördis noch kein eigenes Auto, aber inzwischen einen Führerschein, also hätte ich mir ein Auto leihen können und etwa 1 Stunde auf ihrer Feier verbringen können, ich wäre genauso schnell in Siek gewesen. Detlev hatte mir im September oder Oktober 1980 seine Mofa geliehen damit ich zu einer Feier nach Siek und wieder zurück fahren konnte. Warum habe ich mich damals nicht um ein Auto bemüht? Warum habe ich das nicht getan? Warum? Eigentlich wäre die Lösung so einfach gewesen: Detlev fährt mich mit seinem Auto zu mir nach Hause, ich kann mich zu Hause fertig machen, fahre mit dem Auto meiner Eltern zu Jördis Abschiedsfeier und später zur Konfirmation meiner Schwester. Als ich damals mit dem Rad zu Hause angekommen bin war das Haus dunkel, meine Angehörigen also schon unterwegs. Was hätte es da eine Rolle ob ich in Siek etwas später angekommen wäre?

Das Tragische an der Geschichte ist ich habe nie wieder eine Frau wie Jördis kennengelernt. Ich bin nach wie vor alleine, die schöneren Körbe hießen „Lass uns Freunde bleiben“ oder „So einen Bruder wie dich hätte ich ganz gerne“, die anderen Körbe „So einen wie Dich kann ich nicht als Freund präsentieren, da blamiere ich ja“ oder „Bei Dir langweilt sich jede Frau zu Tode“. Viele Frauen haben es geliebt mir in der Öffentlichkeit eine Szene zu machen, als Trottel vom Dienst war ich gut geeignet. Jördis hätte mir damals nach der Szene im Klassenzimmer auch Vorwürfe machen können, hat sie aber nicht. Auch Lehrer Fiedler war verständnisvoll mit mir umgegangen, ich hatte einen Fehler gemacht, musste zweimal hintereinander Tafeldienst machen, und gut war´s. Lehrer Fiedler bin ich nach der Schule noch ein paar Mal begegnet, vor allem bei Chorkonzerten, er ist Sänger bei einem Oldesloer Gesangverein. Auch zu den anderen Personen ist der Kontakt nie abgerissen. Als Detlev 1990 seine Renate geheiratet hat war ich zur Feier eingeladen, und Detlev war auch anwesend auf der Trauerfeier für meine Mutter 2016. Heiko hatte 1994 Polterabend, da war ich. Bei Walkling war ich zuletzt 1990 als Jens seinen Polterabend feierte. Aber Jördis? Kein Brief, keine Nachricht, nichts mehr. Außer den Namen und die beiden Bilder habe ich nichts von ihr. So sehr wie meine Schwester mich heute enttäuscht so sehr habe ich damals Jördis enttäuscht. Ich hätte ihr die Ehre geben sollen und mich wenigstens für eine Stunde auf ihrer Abschlussfeier blicken lassen sollen – ich habe es nicht getan. Ich habe einfach alles vermasselt.